Minority Report (John Williams) - Filmmusik-Betrachtung



                                                                                        Trailer


Minority Report ist ein Film von Steven Spielberg aus dem Jahre 2002 mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Der Film basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Philip K. Dick. Es handelt sich um eine Zukunftsvision, die, in der Tradition von Jurassic Park, zu Vorsicht beim Umgang mit dem Fortschritt warnt. Die Musik schrieb, wie bei Spielberg-Filmen üblich, John Williams.


Wie nimmt man einem Score die Farbe?


Im Booklet der CD findet man eine Aussage von Steven Spielberg, der meint, dass dies der erste Schwarz-Weiß-Score wäre, den Williams für ihn geschrieben habe. Das klingt etwas merkwürdig, denn Schindlers Liste war zum größten Teil in schwarz-weiß. Offensichtlich empfand Spielberg den Soundtrack zu diesem allerdings als bunt. Die Frage kann also lauten: Wie komponiert man einen farblosen Score?
Nun, man kann über die Instrumentation gehen. Und Williams tut das, meiner Ansicht nach, auch. Die folgenden Äußerungen habe ich nicht irgendwo gelesen. Es sind persönliche Eindrücke. Vielleicht schreibe ich irgendwann zur wissenschaftlichen Evaluierung eine Doktorarbeit darüber.


Von grünen Oboen und roten Trompeten


Ich denke, dass man nicht umsonst von Klangfarben spricht. Ich bin davon überzeugt, dass das klassische Orchester nicht zufällig so zusammengesetzt ist, wie es das ist. Ich denke, dass es (fast) alle Klangfarben abdeckt. Und ich stelle jetzt einmal ganz dreist die Behauptung auf, dass es eine Korrelation zwischen dem Farbkreis nach Itten und klassischen Instrumenten gibt. Ich habe beispielsweise die Erfahrung gemacht, dass Menschen den Klang einer Oboe am ehesten mit der Farbe grün verbinden. Wobei es ja so viele verschiedene Grüntöne gibt, dass das schwer zu evaluieren ist. Ich glaube dennoch, dass das kein Zufall ist. Ich würde sogar noch weitergehen und allen Holz-und Blechbläsern im klassischen Orchester eine Farbigkeit zuordnen. Wie gesagt, dem liegt keine wissenschaftliche Untersuchung zugrunde. Von meinem Gefühl her, und der Befragung einiger Freunde, kam ich zu folgenden Zuordnungen: gelb-Querflöte, rot-Trompete, blau-Klarinette, orange-Horn, grün-Oboe.


Fehlt der Klassik etwas, was der Jazz hat?


Folgende Fragen kommen jetzt auf: Fehlen da nicht Instrumente? Und was ist mit der Farbe violett, die ja im Ittenschen Farbkreis noch zu finden ist? Zu erstens: Es fehlen Posaune, Tuba, Fagott und spezielle Instrumente, wie zum Beispiel Englischhorn oder Bassklarinette. Die Posaune würde ich aufgrund ihrer Verwandtschaft zur Trompete ins Rotspektrum setzen, aber im dunkleren Bereich. Überhaupt sollte klar sein, dass, je tiefer ein Instrument gespielt wird, umso dunkler die entsprechende Farbe ist. In diesem Zusammenhang würde ich auch das Englischhorn aufgrund seiner Verwandtschaft zur Oboe im dunkleren Grünspektrum einordnen. Tuba und Fagott finde ich sehr schwierig. Vom Gefühl her, empfinde ich das Fagott beispielsweise als braun, was mit Itten ja gar nichts zu tun hat.
Zum Fehlen der Farbe violett in dieser Theorie: Nun, ich glaube, dass diese Klangfarbe im klassischen Orchester fehlt. Und ich glaube weiterhin, dass sie in einer anderen Musikrichtung sehr intensiv zu finden ist: im Jazz. Ich ordne nämlich ganz keck der Farbe violett das Saxophon zu.


Ensembles vs Solo-Instrumente


Zu den restlichen Instrumenten im klassischen Korpus. Streicher sind für mich farblos. Wobei ich hier vom Ensemble spreche. Eine Solo-Violine kann, nach meinem Gefühl, schon wieder Farbigkeit erzeugen. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb Spielberg die Musik zu Schindlers Liste nicht als schwarz-weiß empfindet; immerhin spielt die Violine ja dort eine zentrale Rolle. Ähnliches gilt, meiner Ansicht nach für die menschliche Stimme: Im Ensemble klingt sie farblos, solo kann sie sehr wohl eine Farbe haben.
So, jetzt habe ich mich richtig schön weit aus dem Fenster gelehnt. Ich habe mir auch gerade überlegt, dass ich eigentlich doch keine Doktorarbeit darüber machen will. Das wissenschaftliche Arbeiten ist bisweilen so stumpf. Ich werfe lieber irgendwelche wilden Theorien in die Welt. Mögen andere untersuchen, was an denen dran ist.


Die Streicher als möglicher Schlüssel


Also, nachdem ich ausführlich meine Theorie erklärt habe, will ich sie auf den Score zu Minority Report anwenden. Ich denke, es ist unbestritten, dass die Hauptinstrumente dieses Soundtracks die Streicher sind. Und zwar im Ensemble. Natürlich sind Streicher in den meisten Williams-Scores sehr präsent. Aber hier sind sie es auf eine andere, eine prägendere Art und Weise. Es gibt einige Stellen, wo Holzbläser die Melodie spielen. Und zwar meistens in Zusammenhang mit der Erinnerung an Sean, also dem ermordeten Sohn des Hauptcharakters. Der "farbigste" Track ist deshalb für mich ""Sean" By Agatha". Er beginnt mit einer Querflöte. Später wird die Melodie durch Oboe und Klarinette gespielt.
Zwei weitere "Instrumente" übernehmen immer wieder eine führende Rolle: Die Solo-Stimme, die immer dann eine vage Melodie singt, wenn das Thema Anne Lively angesprochen wird, und des Weiteren das Klavier. Der Stimme kann ich persönlich ebenfalls keine konkrete Farbe zuordnen. Über das Klavier habe ich in der Beschreibung meiner Theorie noch nichts gesagt. Nun ja, ich denke, es ist auch farblos.


Steven Spielberg und die Konditionierung


So, jetzt habe ich über die Instrumentation geschrieben, und wie sie ihren Beitrag dazu geleistet haben könnte, dass Spielberg diesen Score als farblos empfindet. Aber das ist natürlich nur ein Aspekt. Denn ich glaube, dass die Farbigkeit auch durch andere Elemente erzeugt werden kann. Zum Beispiel die Spielweise eines Instruments: Flache Streicher, also ohne Vibrato, würde ich als farbloser empfinden. Dann die Harmonik: Bestimmte Klänge erzeugen eher Farbe, als andere das tun. Auch Rhythmus und Geschwindigkeit können wahrscheinlich einen Einfluss haben.
Aber das was ich für die wahrscheinlichste Erklärung halte, warum Spielberg diesen Score als schwarz-weiß empfindet, ist für mich dieses: Er kennt Schwarz-Weiss-Filme, die Musik haben, wie Williams sie für Minority Report geschrieben hat. Die Harmonik, der Rhythmus, die Instrumentation - es klingt doch alles ein bisschen so, als ob an jeder Ecke eine Dusche steht und jemand mit einem Messer vorbeischaut; Bernard Herrmann reloaded. Dies soll nicht abfällig gemeint sein - ich halte Minority Report für einen herausragenden Soundtrack in Williams' Karriere, weil er wieder einmal zeigt, wie viele Facetten in diesem Mann stecken. Aber ich finde, dass die Parallelen zwischen diesen zwei Generationen Hollywoods recht eindeutig sind.


Williams goes Herrmann


Kurz zu den musikalischen Themen und Motiven des Films, von denen es doch einige gibt. Da haben wir zuerst das Thema des Sean, welches auf dem Album in dem gleichnamigen Track zu finden ist (Link: Hörbeispiel). Es bildet das Zentrum des Films. Die gesamte Motivation des John Anderton (Tom Cruise) liegt in seinem toten Sohn. Dann haben wir die "Spyders", die ebenfalls ein eigenes Motiv bekommen haben. Es ist hauptsächlich chromatischer Natur und wird von Streichern und gedämpften Trompeten bestimmt. Dann haben wir noch das Motiv der ermordeten Anne Lively, welches durch eine recht schräge Frauenstimme gesungen wird. Es enthält in seiner Kürze chromatische und Moll-Elemente. Und zu guter Letzt findet sich noch der Track "A new beginning". Dieser ist insofern interessant, als dass die enthaltene Melodie ausschließlich am Ende des Films vorkommt, gefolgt übrigens von "Sean's Theme", was wohl als eine Art Versöhnung mit der Vergangenheit gedeutet werden muss. So, und dann gibt es noch einen ganzen Batzen an Musik, die keine klaren Motive oder Melodien aufweist, aber dennoch eine sehr passende Einheit ergibt. Und unter diesem sind auch die, so empfinde ich es jedenfalls, absoluten Juwele dieses Soundtracks zu finden. "Eye-Dentiscan" und "Everybody Runs!". Ersterer klingt absolut nach Herrmann. Das "Prelude" aus Psycho hat sehr sehr ähnliche harmonische Konstruktionen, auch wenn der Duktus sich unterscheidet, und man sagen muss, dass Herrmann an dieser Stelle vielleicht ein Stück origineller war. Und "Everybody Runs!" ist ein rhythmisch derart ausgefeiltes Stück, wie ich es von Williams selten so gehört habe. Ich finde es schlichtweg überragend. Nach meinem Gefühl liegt die Stärke seiner Kompositionen eher in der Melodie und Harmonik, aber hier beweist er, dass er auch anders kann.


Schubert und die Unvollendung


Zum Schluss noch zu der Musik, die im Film genutzt wird, ohne direkt für ihn komponiert worden zu sein. Da haben wir "Die Unvollendete" von Schubert, welche erklingt, wenn Anderton auf seinem Desktop Bilder hin- und herschiebt. Eine interessante Wahl ist dies in mindestens dreierlei Hinsicht. Zum einen bildet die klassische Musik einen Gegenpol zum Bild, denn er schaut sich währenddessen Morde an. Außerdem ist die Mischung aus zu sehender moderner Technologie und zu hörendem Orchester eine interessante, wenn auch nicht gänzlich neuartige, Maßnahme. Und dann noch der Titel der Sinfonie: Die Unvollendete. Wenn dies bewusst von Williams oder Spielberg so ausgesucht wurde, dann kann man diese Wahl als Hinweis auf den Ausgang des Precrime-Experiments und damit des Films verstehen.
Ein zweites Werk, welches genutzt wird, als Anderton nach Hause, also in die Einsamkeit kommt, ist die sechste Sinfonie von Tschaikowsky. Diese trägt den Namen "Pathétique". Interessant hierbei ist, dass es sich um sein letztes Werk handelt; und nach eigener Aussage um sein Persönlichstes. Wenige Tage nach der Uraufführung starb Tschaikowsky. Warum dieses Werk an dieser Stelle ausgesucht wurde, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht ergibt es Sinn, wenn man mit einbezieht, dass die Uraufführung vom Publikum nur sehr verhalten aufgenommen wurde, obwohl der Komponist es für sein größtes Werk hielt; vielleicht soll die Enttäuschung Tschaikowskys den Bezug zum Film herstellen, denn auch John Anderton hatte sich ja sicher ein anderes Leben vorgestellt, als dieses, in welches er durch den Tod seines Sohnes geraten war. Das wäre eine mögliche Erklärung, aber ob es die richtige ist, vermag ich nicht zu sagen.


Wie auch immer. Ich habe bereits erwähnt, dass ich diesen Soundtrack sehr wertschätze, auch wenn er sicher kein Meilenstein der Filmmusikgeschichte ist. Ich finde, dass der Einsatz der Musik sehr gut gewählt ist und dass wirklich innovative Themen und Motive zu finden sind. Der größte Trumpf ist meiner Ansicht nach seine relative Einzigartigkeit im Werk von Williams. Schon deshalb allein denke ich, dass man in dieses Werk einmal hineingehört haben sollte.


Special: Clips from the movie

Zuerst ein Clip, in dem man die "Unvollendete" von Schubert im Hintergrund hört.


Hier nun ist das "Spyders"-Motiv zu hören.


Im ersten Teil dieses Clips wird Sean's Thema immer wieder angespielt.


Und zu guter Letzt noch ein Clip, wo Musik á la Psycho zu hören ist.



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